Von Kerstin Brune
„Wenn man in Estland ein Autokennzeichen mit drei Ziffern und drei Buchstaben sieht, ist ein Glückstag!“
Der Kollege zeigt auf den röhrenden Dodge Charger, dessen Fahrer vor den alten Holzhäusern Tartus seinen motorisierten Balztanz aufführt. Die Scheiben des Boliden sind beschlagen vom ersten Atem des Herbsts. Oktober 2024. Sommerschwüle weicht weißer Luft. In der Kulturhauptstadt Europas riecht es plötzlich nach Schnee und Kiefernrauch.
Zu früh gekommene Erstklässler kicken auf dem Fußballplatz, der uns Austausch-Gästen einen grünen Teppich zum Miina-Härma-Gymnasium ausrollt. An seiner Stirnseite grüßt die Schulpatronin als Statue. Vielleicht gibt sie gerade einen Elfmeter. In ihrer Bronze-Hand liegen selbstgebastelte Reflektoren für diejenigen, die den plötzlichen Herbst noch nicht recht wahrhaben wollen.
Der Kollege deutet auf seinen Mantelsaum, an dem Sterne gleich vergessenen Preisschildern baumeln: „Manchmal hält einen die Polizei an, wenn man keine hat.“
Eigenverantwortliche Reflexion – im Kern genau das, was ein Austausch will. Seit 1992 spiegeln Chor- und Orchester-Schülerinnen und -Schüler aus Tartu und Bielefeld einander, was ihre Länder eint und was sie voneinander unterscheidet.
Der Gong zur ersten Stunde ist die Filmmusik zu „Mission Impossible“. Auf dem Weg zur Probe passieren wir offene Türen, hinter denen Schülerinnen und Schüler deutsche Grammatik pauken. Auf der Folie scheuert Batman Robin gerade eine, weil der ein Modalverb mit „zu“ kombiniert hat, der Depp. Spätestens da wird deutlich: Der Este punktet mit forscher Rückmeldung. Schon deshalb ist das Land im hohen Norden des Baltikums ein bestens geeigneter Sparring-Partner.
Niemand sei derartig groß und zugleich langsam wie die Deutschen, grinst zum Beispiel der Gymnasiums-Guide, als er unseren 39 Schülerinnen und Schüler zwischen zwei Proben den Domberg zeigt, die imposante Mittelalterruine, die wuseligen Shoppingmalls in der Innenstadt und die Gebäude der berühmten Uni. Ein großgewachsenes, wirtschaftsmächtiges Land kriegt um die Ohren gehauen, wie es selbstzufrieden müßig geht, schleppt und schlendert, während Estland einen forschen Schritt braucht, um an der Grenze eines riesigen Krieges nicht seinen Humor zu verlieren, seine zupackende Art und die Liebe zu Europa, das mit großzügiger ERASMUS+SCHULE-Förderung für englischsprachige Austausche wie diesen zurückliebt.
So ist es möglich, dass wir gemeinsam das Estnische Nationalmuseum besuchen. Dort stellt sich die sehr eigene Sprache aus, traditionelles Handwerk, die für uns putzig-naiv anmutende Hinwendung zum Digitalen und die raue Vergangenheit des Landes – da muss man gar nicht bis zur Brauteignungsprüfung durch Braunbär-Urin zurückgehen. Im Zentrum stehen Zeugen der sowjetischen Zeit. Die Erkenntnis, dass Singende Revolution etwas anderes bedeutet als „Mama Lauda“ von der Reisebus-Rückbank. Das Leben ist nichts für Feiglinge.
Jede zweite Fernseh-Nachricht beschäftigt sich mit Krieg, dann kommt kurz was Erleichterndes mit Fisch, mit Zügen, das Wetter und der nationale Mathetag, an dem alle Esten Aufgaben finden und die Lösungen an die Uni übersenden können.
Gerade in solchen Zeiten gilt es, Gemeinsamkeiten zu stärken, und die schafft der Schul-Austausch vor allem durch Musik. Wie schon im März steht Marc-Antoine Charpentiers „Te Deum“ im Zentrum der intensiven Chor- und Orchesterproben, berühmt für seine als Eurovisionsmusik geläufigen Eröffnungstakte, zu denen sich der Deutsche reflexartig mit Schlafanzug und Salzstangen vor die Glotze wirft. Ein bunt strahlender Brocken mit ganz viel Dur. Was könnte ein schöneres Sinnbild für Europa sein?
Donnerstag. Der Applaus brandet lange in der Pauluskirche. Wir fühlen, dass Glück im Hier und Jetzt passiert. Was es in verschiedenen Ländern bedeutet, wie zerbrechlich es ist, wie man es erringt, erarbeitet und erhält, das wird hier unmittelbar erlebbar.
Für uns ist es ein krümelresistenter Busfahrer mit einem unerschöpflichen Vorrat an Süßigkeiten. Ein Demokratie und Freiheit feierndes Gastland, in dem ganze Hauptmahlzeiten aus Zimtschnecken und schokoladenüberzogenem Nusskuchen bestehen. Trampolinboden im Endla-Moor, das Klimaschutz durch formschönes Rumsumpfen leistet, Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Freundschaften unter den Schülerinnen und Schülern ermöglicht. Bullenreiten im Kanonenkeller. Ein farbenglühender Herbstmorgen. Bald kommt der Winter, der Frost, die dunklen Tage. Das Bunt erhalten, die Kälte vermeiden – das bleibt unsere Mission Possible, auch beim nächsten Austausch 2027.
„Wie viele Wagen in Estland haben wohl ein Kennzeichen mit drei Ziffern und drei Buchstaben?“, überlege ich.
Der Kollege sieht mich verständnislos an.
„Na, alle!“
Noortevahetus Bielefeldi sõpruskoolidega – Austausch-Bericht auf der Homepage des Miina-Härma-Gymnasiums