Gruppenbild vor dem RathausEstlandaustausch des Cecilien- und des Helmholtz-Gymnasiums (24.09.2014 – 03.10.2014)

Die Erwartungen vor der Reise: lange Busfahrten, völlig unbekannte Sprache, vollmundiger Gesang, Teilhabe an einer alten Schul-Partnerschaft.

Und die herausragenden Erfahrungen nach der Reise? Die gewachsene Partnerschaft mit dem Miina-Härma-Gymnasium lebt, das Baltikum ist gar nicht so einheitlich, wie man gemeinhin denkt, und das Adjektiv „fein" darf ruhig vielseitig verwendet werden, wenn es um Estland, Tartu und die Freunde vom Miina-Härma-Gymnasium geht.

Der Beginn dieser Reise am Ostmarkt in Bielefeld ließ zugleich ahnen, dass diese Reise verbunden sein würde mit Einblicken in die verschiedenen emotionalen Steigerungsstufen des hervorragenden Planers und Reiseleiters Christian Fabritz – dem, das sei hier ausdrücklich gesagt, nicht genug gedankt werden kann für alle Vor-, Zwischen- und Nacharbeit.

Bereits die Abfahrt verzögerte sich um kein Geringes, weil der Busunternehmer „nicht zugehört" (!) und den Bus an die falsche Abfahrtsstelle geschickt hatte. So durften die Reisenden die erste Fabritzsche Steigerungsstufe (im Folgenden: FS + Nummer auf einer Skala 1 - 6) erleben.

Die anschließende Fahrt nach Puttgarden, dann mit der Fähre nach Rødby, dann wieder mit dem Bus nach Helsingør, dann wieder mit der Fähre nach Helsingborg, dann wieder mit dem Bus nach Stockholm... war vor allem lang, durch die natürlichen Unterbrechungen aber ganz gut zu ertragen.

In Stockholm sollte die erste große Fähre bestiegen werden. Nun wieder hatte der Busfahrer „nicht zugehört" (!) und es gab eine kleine Irrfahrt (FS 3) durch die verschiedenen Anfahrtsschlangen, bis dann doch das Schiff bestiegen werden konnte. Wer wollte, konnte vor dem opulenten Abendessen noch den Blick in eine verregnete, aber doch zauberhaft verträumte Schärenlandschaft genießen. Die Nacht verbrachten die meisten Reisenden in ihren Kajütenbetten, die Karaokebar kam in den Genuss, Bielefelder Nachwuchssänger zu erleben.

Am Morgen brach sich trotz Nebel und Regen doch ein zauberhafter Lichtstreifen am Horizont Bahn und gegen 11.00 Uhr kamen wir in Riga an, wo der Reiseleiter kurzerhand einen strammen, sehr informativen und erstaunlich umfassenden Stadtgang anordnete. Das Erleben dieser überwältigend schönen Stadt mit ihren städtebaulichen Reichtümern (Backsteingotik einerseits und Jugendstil andererseits) machte sehr deutlich, dass Europas Länder vor allen eisernen Vorhängen in ganz anderer Weise miteinander vernetzt waren und wie schwer es ist, die jahrzehntelange Erfahrung der Ost/West-Teilung aus dem Kopf zu bekommen und diese vormalige Einheit zu erfassen. Eine kurze abschließende Freigangsphase endete damit, dass die meisten sich den kostenpflichtigen Besuch des Domes sparten, ein junger Mann nicht zum Treffpunkt am Denkmal (für Herder? für die Freiheit? oder doch für McDonalds?) zurückfand (FS 5!!!) und auch der Bus nicht am vereinbarten Ort zu finden war (FS 4,5!).

Schließlich – alles wurde gut – kamen wir am Abend, nach etwas zermürbender Fahrt auf maroden lettischen Straßen in Tartu an, wo wir herzlich empfangen und auf die verschiedenen Privatquartiere verteilt wurden. Hier war im Koffergewimmel leicht zu erkennen, dass die emotionalen Steigerungsstufen unseres Busfahrers sehr leicht die des Reiseleiters überstiegen...

Samstag, der erste volle Tag in Estland: Der Vormittag war allgemeinen und intensiven Proben gewidmet, der Nachmittag dem Kennenlernen – die Schüler blieben in ihren Gastfamilien, die Lehrer wurden von den Kollegen ins Seto-Museum im Süden des Landes eingeladen und lernten eine kleine estnische Minderheit mit sehr eigenem Dialekt – eigener Sprache? – kennen, deren Gebiet seit der estnischen Unabhängigkeit durch die Grenze nach Russland zerschnitten ist. Auf der Heimfahrt gab es einen Halt in Räpina mit seiner (natürlich verschlossenen) barocken Kirche am See und dem Herrenhaus Sillapäa, in dessen Gebäuden ein Kompetenzzentrum für kreative Industrien seine Stätte hat. Hier war sehr ersichtlich, wie schwer das Ringen der Esten um Neugestaltung dieses Landes ist angesichts überaus begrenzter Mittel: Die Vorderfront des Herrenhauses beherbergt eine Musikschule, an der eigentlich malerischen Rückfront muss das Haus gestützt werden, sind die Fenster zerbrochen und die Steinstufen zum See geborsten – aufstrebendes Leben im materiellen Mangel?!

Am Sonntag fuhren alle estnischen Gastgeber- und deutschen Gastschüler samt Lehrern zunächst ins Eiszeitmuseum in Äksi, wo einzelne bedauernswerte Reiseteilnehmer Gefahr liefen, intime Bekanntschaft mit dem anliegenden Seewasser zu machen. Im Ice Age Centre wurde deutlich, dass Estland eine hervorragende Museumskultur pflegt – Informationen immer gepaart mit der Möglichkeit, selbst zu versuchen, nachzustellen, zu verbildlichen – vom Mammut bis zum Polarlicht war alles berücksichtigt. Anschließend ging es zur Burg Rakvere (wohl dem, der des rollenden Rs mächtig ist!), wo Schüler und Lehrer einen spannenden Nachmittag lang zu Knappen, Rittern und Vögten mutierten, den Bogen anlegten oder hochnotpeinlich befragt wurden, Keuschheitsgürtel und Schwarzpulver eine Rolle spielten und Skelette und Fledermäuse weibliche Wesen zur Wiedergabe hoher Frequenzen animierten. Ein mehr als informativer Tag und einer von vielen Beweisen für die Liebe und Sorgfalt, mit der die estnischen Gastgeber unseren Besuch geplant hatten.

Am Montag, dem dritten Tag, war zunächst die Teilnahme an der ersten Schulstunde angesagt, um das Schulleben kennenzulernen. Verblüfft stellten manche deutschen Schüler fest, in welch hohem Tempo und in welch strikter Arbeitsweise hier gelernt wird. Das Miina-Härma-Gymnasium präsentierte sich – auch bei der folgenden Schulführung in Film, Vortrag und Begehung – als eine Schule, die viele kreative Möglichkeiten, Bildung zu vermitteln (hierzulande wäre das so gar nicht möglich...), nutzt und für sich einen Weg beschritten hat, der zu hoher Bildungsqualität und umfassender Erziehung führen soll. Ein anschließender Stadtrundgang in mehreren Gruppen, bei dem Schüler der Schule durch ihre Stadt führten, beruhigte manches deutsche Schülerherz – diese Guides gaben offen zu, dass sie sich vieles von dem, was sie erzählten, erst direkt für diesen Anlass angelesen hatten. (Beim anschließenden Freigang mit Souvenirkauf war eine fortgeschrittene FE (Reiseleiter-Entspannungsstufe) zu beobachten. Der Nachmittag war Proben vorbehalten, der Abend der Pflege der deutsch-estnischen Kontakte.

Der vierte Tag begann mit intensiven Schlussproben – z. T. gemeinsam mit dem ausgezeichneten estnischen Schulchor und seiner charismatischen Chorleiterin. Mittags gab es dann das erste Konzert der Reise in der Aula des Gymnasiums, gleichzeitig eine gute Möglichkeit des klanglichen Zusammenwachsens für das am folgenden Tag geplante Konzert. Und in den vielen guten Worten, die gewechselt wurden, war erkenntlich, dass die Herzlichkeit, mit der wir empfangen und behandelt wurden, Ausdruck eines gegenseitigen echten Interesses ist. Nach dem Mittagessen – die Mensa der Schule stand uns Gästen immer offen – wurden alle in das dritte museale Highlight, das AHHAA-Zentrum in Tartu geleitet. Auch hier konnten latent schon nölende Schüler vom Planetarium bis zum Rad fahrenden Lehrer auf dem Drahtseil begeistert werden. Auch an diesem Abend waren alle Besucher mit ihren Gastgebern zusammen – die leise Klage „Mein Este ist nachtaktiv" ließ ahnen, dass das nicht für alle zu geruhsamen Nächten führte.

Mittwoch, der letzte volle Tag in Estland: Zunächst die Audienz beim Oberbürgermeister von Tartu. Es kam uns ein überraschend junger, sehr gut Deutsch sprechender, dynamischer Mann entgegen, der begeistert für seine Stadt warb, sich aber vor allem als glühender Anhänger von internationalen Dialogen, des europäischen Gedankens und einer Ideologie des positiven globalen Fortschritts entpuppte. Eindrücklich sein Werben um eine Jugend, die mit wachen Augen durch die Welt gehen und sich einbringen soll, die über Grenzen hinweg Lösungen für Probleme aller Völker suchen soll.

Noch einmal ging es dann ins Museum, nun ins estnische Nationalmuseum, wo es der Führer nach dem Esprit des Stadtoberhauptes nicht leicht hatte, noch einmal alle Aufmerksamkeit für seinen erschöpfenden Vortrag zu erhaschen. Danach Mittagessen und dann der Fußmarsch zur baptistischen Kirche, in der letzte Vorbereitungen für das große gemeinsame Konzert getroffen wurden. Im gemeinsamen Musizieren fanden der Aufenthalt und der Austausch einen klangvollen Höhepunkt – beim Abschlussessen im historischen „Püssirohukelder", einem riesigen backsteinernen Waffenarsenal aus dem 18. Jahrhundert, einen kommunikativen Schlusspunkt.

Am nächsten Morgen hieß es Abschied nehmen. Wir nehmen mit viel Hochachtung für viele engagierte Menschen in Estland, die an ihrem endlich unabhängigen Staat mit Hartnäckigkeit, Intelligenz und viel Einsatz bauen – auch wenn die Lebensbedingungen nicht durchweg rosig sind – dass z. B. Lehrer mit voller Stelle Nebenjobs haben müssen, um ihre Familien ernähren zu können, wäre in Deutschland undenkbar. Wir nehmen den Eindruck eines Landes mit, das uns in Sachen breit genutzter E-Kommunikation ein wenig zum Entwicklungsland degradiert. Wir nehmen ein dankbares Gefühl für viel Gastfreundschaft mit, der man manchmal kaum Herr wurde, weil sie ohne Rücksicht auf eigene Nachteile der Gastgeber ausgelebt wurde. Wir nehmen das Bewusstsein mit, ein feines Volk kennengelernt zu haben.

Die Rückfahrt war lang, lang und nochmal lang – immerhin: Wir fuhren durch alle drei baltischen Staaten und konnten sehen, dass sie sich in der Tat deutlich unterscheiden. Die immer neuerlichen – informativen oder bildenden – Durchsagen unseres Reiseleiters wurden nicht immer gewürdigt, was vereinzelt zu Rückfällen auf FS 3 führte.

Zielpunkt der Busfahrt war Klaipeda, einst Memel, wo wir kurz dem Ännchen von Tharau unsere Aufwartung machten und Simon Dachs Lied sangen. Wer das peinlich fand, hatte keine Chance.

Und dann ging es auf die Fähre nach Kiel, auf der nun endgültig nur noch Chillen angesagt war. Eine Nacht und ein Tag auf der Ostsee bei ruhigem Seegang und ohne Karaokebar – das war für manchen die vorletzte Anstrengung der Reise. Der Spruch des Jahres hier: „Hier kann man sich nicht gebildet unterhalten, hier gibt es kein WLAN."

Bei mildem Wetter und Sonnenschein liefen wir in die Kieler Bucht ein und bestiegen zum letzten Mal den Bus, um noch einmal lange und – letzte Anstrengung – hungrig gefahren zu werden. Bei der Ankunft am Ostmarkt in Bielefeld lief alles schnell auseinander, um nicht noch in die Fänge des Busfahrers zu gelangen, dessen letzte Steigerungsstufe durch den im Bus verbliebenen Müll heraufbeschworen wurde. Aber wer will schon nach solchen Tagen in die Niederungen von Putzen und Aufräumen steigen. Fragten sich auch die Berichterstatter beim einsamen Müllzusammenklauben...

Alles in allem: Es lohnt sich, schon jetzt die eigene Teilnahme am nächsten Estlandaustausch einzuplanen.