Ein Bericht zum Estland-Austausch – Bielefeld 2024
Wenn man mit 42 estnischen Austauschschülern wandern geht und mit 50 Leuten wiederkommt, weil eine Gruppe Nordic Walker aus Versehen hinterhergelaufen ist, hat man einen Eindruck vom gewaltigen Tempo der Esten.
Man denke da an den beherzten Schritt in die Europäische Union Anfang der 2000-er Jahre. Oder an die Digitalisierung in dem kleinen baltischen Staat. Was waren wir neidisch, als bei unserem letzten Besuch 2018 dort selbst die Biber im abgelegenen Naturschutzgebiet problemlos Netflix schauen und online wählen konnten, während unsereins in jeder ostwestfälischen Senke das Handy in die Luft reckt wie das Hermannsdenkmal sein Schwert.
Noch schneller als das Internet scheint die Auffassungsgabe, mit der die Gäste bei den langen Stimm-, Solo-, Orchester- und Chorproben scheinbar mühelos die schwierigsten Tempowechsel und kraftraubenden Koloraturen verinnerlichen.
Sie mit beeindruckender Disziplin, Haltung und Kraft in Verbindung zu bringen, ist aber nur die halbe Wahrheit. Es ist erst einmal die leise, strahlende Art abseits der Konzertbühne, mit der die Esten sofort Highspeed-Zugang zu ihren Gastfamilien finden. Ungewöhnlich zugewandt sind sie, trotz des straffen Zeitplans, bescheiden und verliebt in Dinge, die uns bisher klein, unscheinbar und wie fade Kulissen unseres Alltags vorgekommen sind.
Auf der Wanderung zwischen den vielen Proben jedenfalls bestaunen sie die kahlen Bäume im Teutoburger Wald, während wir den Abhang zum Tierpark hochgemsen, mit nackten Armen und Sonnenbrille. Sie begreifen die bloße Abwesenheit von Schnee nämlich als handfesten T-Shirt-Frühling.
Man könne ihn schon riechen, selbst neben dem Wildschweingehege!
Bewundernd lassen sie sich den fiesen März-Regen in die Handflächen fallen und den Unterschied zwischen Niesel- und Fisselregen beschreiben. Den kenne ich auch nicht so genau, er kommt ihnen aber gewaltig vor. Vielleicht gibt es in Estland ja 50 Arten von Regen, so, wie in der Arktis viele Darbietungsformen von Schnee jeweils ihren eigenen Namen besitzen. Wir fragen im September einfach mal nach, wenn unser Gegenbesuch am Miina-Härma-Gümnaasium in Tartu ansteht.
Der Ort im Süden des Landes ist 2024 übrigens Kulturhauptstadt Europas. Da gibt’s noch mehr Musik als sonst, wobei das kaum möglich scheint. Wo der Schweizer sein Taschenmesser hat, ist in Estland nämlich Musik das Universal-Tool. Selbst die Unabhängigkeitsbewegung Ende der 1980er-Jahre setzte auf gemeinsames Singen von Liedern, die die nationale Identität hochhalten. Man kennt diese gewaltlose Bestrebung deshalb auch als die „Singende Revolution“.
Über den Schachtbrunnen der Sparrenburg gebeugt, schmettern die Jugendlichen nun Harmonien in den schwarzen Schlund hinunter und lauschen dem Echo. Irgendwo hineinsingen und sich freuen, was zurückkommt: im Grunde das ungeschriebene Motto des Chor- und Orchesteraustauschs, den es seit 1992 gibt.
Direkt nach der Anerkennung der baltischen Staaten als unabhängig wurde er vom Bielefelder Pfarrer Toomas Põld initiiert, dem Sohn von Peeter Põld, zweiter Schulleiter des Miina-Härma-Gümnaasiums und späterer Rektor der Universität Tartu sowie
Kultusminister in Estland. Zwei seiner Enkel gingen aufs Ceciliengymnasium und waren Teil der Austauschgruppe.
Damals noch ein Kind mit Geige, nahm auch Markus Leppoja die 48-stündige Anreise auf sich. Heute lebt er in Tallinn, ist bekannter Dirigent und Sänger sowie künstlerischer Leiter unseres gemeinsamen Abschlusskonzerts mit dem Segakoor. Das ist der Oberstufenchor, der sich aus den Gastschülerinnen und -schülern zusammensetzt. Normalerweise probt der mit Kadri Leppoja, die in diesem Jahr die Reise nicht antreten konnte. Mit von der Partie sind die estnischen Kolleginnen und Kollegen Liis Somelar sowie Marje Peedisson und Heiki Puusepp. Sie werden von Schülerin Aino Altheide als souveräner Dolmetscherin mit allen Informationen versorgt. Die klingen auf Estnisch eben einfach schöner als auf wuastigem Westfalen-Englisch.
Während also noch Dominantseptakkorde durch die mittelalterlichen Kasematten schweben, zeigt Herr Storz den Austauschschülern vom Sparrenberg aus Bielefeld, wobei: Bielefeld gibt es heute wirklich nicht. Kalter Nebel liegt über der Ebene, und die Stadt zieht ihre weiße Jacke nicht so schnell aus wie ein Este seine bei jeder Temperatur über fünf Grad.
So wenig man sieht, umso gespannter fragen die Gäste nach: Was es mit den abgegrabenen Flussarmen und unerlaubt geschlagenen Bäumen vom Johannisberg auf sich habe, die im Mittelalter der klaubegeisterten Stadt zur Gründung verhalfen. Sie bestaunen die Neustädter Marienkirche und St. Jodokus, ein 1507 von Franziskanermönchen zwischen Sparkasse und Modeboutique Margret verlegtes Kloster. Selbst in eiterbrauner Grotesk-Architektur wie dem Neuen Rathaus finden die Jugendlichen eine große innere Schönheit – eben eine Gabe und generelle Einstellung der Esten zu ihrer Umgebung. Die spiegelt sich in ihren fünf Konzertbeiträgen wider, die als Herzstück des Aulakonzerts sowie des großen Events begeistern und rühren: Es geht um Schutz und Schönheit des kleinen Ostseeanrainers, um Hoffnung und Licht.
Gerahmt werden sie durch Blechbläserbeiträge, Juhan Liivs „Ta lendab mesipuu poole“ in Erinnerung an die „Singende Revolution“ sowie das große, gemeinsame Projekt der Austauschwoche: das „Te Deum“ von Marc-Antoine Charpentier, das die Kolleginnen und Kollegen unserer beiden Schulen lange und intensiv in den vergangenen Monaten geprobt haben. Das Chorwerk beginnt passenderweise mit genau den acht Takten, die wir als Eurovisionshymne zum Salzstangenholen zwischen „Tagesschau“-Wetterbericht und „Wetten, dass..?“ kennen. Wie könnte man besser zeigen, was wir alle zusammen schaffen?
Ein Pubertätsanwärter neben mir hält statt Noten eine Faustvoll Gummibärchen umklammert. Er könne das alles auswendig, und schaut beim Singen stolz nach seinen Verwandten im überfüllten Kirchenschiff.
„Ach so, und meine Noten sind unters Podest gefallen.“
Von da aus klinge die Musik übrigens auch total interessant, habe er beim vergeblichen Suchen festgestellt. Das kann Austausch also: Perspektivwechsel verursachen.
Am Freitagmorgen rollt der Bus voller plötzlich vertrauter Menschen und Aufklebern mit unheimlich vielen Is, Ls und Üs drauf vom Parkplatz der Rußheide. Ein Kind neben mir guckt bedrückt.
„Alles gut?“
„Wir schreiben gleich Mathe.“
Dann grinst es, faltet sein weißes Tempotuch zusammen und steckt es zurück in die Packung.
„Das brauchte ich zum Winken, nicht zum Weinen.“
Sind ja nur sechs Monate, bis wir einander wiedersehen.